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Wohnen mit Sozialhilfe: Eine grosse Herausforderung mit vielen Unsicherheiten

Eine sichere und angemessene Wohnunterkunft ist die wichtigste Voraussetzung für Sozialhilfeempfangende, um einen Ausweg aus der Armut zu finden und in der Gesellschaft wieder Fuss zu fassen. Eine den Lebensumständen angemessene Wohnunterkunft ist aber in der Schweiz keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Sozialhilfeempfangende leben oft in prekären Wohnverhältnissen oder sehen sich von einem Abgleiten in solche Wohnverhältnisse bedroht. Die UFS widmet in den nächsten Wochen und Monaten eine Reihe von Sondernewslettern dem Thema «Wohnen mit Sozialhilfe». Wir wollen dadurch dazu beitragen, dass ein grosses Problem in der Sozialhilfe stärker in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. In den ersten beiden Sondernewslettern berichten die UFS-Rechtsberaterinnen Zoë von Streng und Nicole Hauptlin darüber, was ihnen im Beratungsalltag am Häufigsten begegnet. In diesem Newsletter geht es um das Problem sogenannt überhöhter Mieten.


Danke, Rausan Noori, und alles Gute!

Rausan Noori hat per Ende August das Rechtsberater:innen-Team der UFS verlassen. Sie möchte sich künftig auf ihre Anwaltstätigkeit im Advokaturbüro Kernstrasse (www.advokern.ch) konzentrieren. Sie bleibt als Vertrauensanwältin jedoch in enger Verbindung mit der UFS. Das UFS-Team wünscht Rausan Noori in ihrer Anwaltstätigkeit im Advokaturbüro Kernstrasse viel Erfolg und Erfüllung. Danke für alles, was Du für die UFS getan hast.

Am 1. November 2022 beginnt eine neue Rechtsberaterin bei der UFS. Wegen des reduzierten Teams muss die telefonische Rechtsberatung jedoch etwas eingeschränkt werden. Bereits publiziert sind die Einschränkungen bis Mitte September (siehe Kasten auf dieser Seite rechts oben). Die Einschränkung von Mitte September bis Ende November werden demnächst aufgeschaltet.


Grosse Freude über Entscheid des Aargauer Regierungsrates

Ab dem 1. Januar 2023 sind Rückerstattungsforderungen an Sozialhilfeempfänger:innen aus der gebundenen Vorsorge im Kanton Aargau verboten. Das hat der Regierungsrat am 24. Juni 2022 entschieden. Zudem erhöht der Kanton Aargau den Grundbedarf von CHF 986.-- auf CHF 1006.--. Die UFS ist sehr erfreut über diesen wegweisenden Entscheid des Aargauer Regierungsrates.


«Sozialhilfe ist doch keine Lotterie!»

Seit Jahren verlangt die UFS eine Harmonisierung der Sozialhilfe auf Bundesebene. Bislang stets erfolglos. Letztmals hat im Juni der Nationalrat eine Motion von Nationalrätin Kathrin Prelicz-Huber (Grüne) verworfen, mit der diese ein nationales Mantelgesetz für die Sozialhilfe forderte. Wieso wäre für die UFS eine Harmonisierung so wichtig? UFS-Geschäftsleiter Andreas Hediger nimmt Stellung.



Die UFS auf Schweizer Radio SRF

Verglichen mit anderen Ländern ist die Inflation ist in der Schweiz moderat. Trotzdem ist sie spürbar. Besonders für alle mit wenig Geld. Viele leben am Existenzminimum und fürchen nun, dass es noch schlimmer wird. Klaus Ammann, Redaktor bei Schweizer Radio SRF ist der Frage nachgegangen, wie sich die Inflation auf den Alltag von Armutsbetroffenen und Armutsgefährdeten auswirkt. Dazu hat er auch Andreas Hediger, Geschäftsleiter der UFS befragt. Andreas Hediger sagt: «Da die Sozialhilfe ohnehin zu tief angesetzt ist, hat die Inflation verheerende Auswirkungen auf das Leben von Sozialhilfeempfangenden.» Den ganzen Beitrag können Sie hier hören: https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/die-preise-steigen-die-angst-vor-armut-auch?partId=12192186


Grosse Unterschiede in der Sozialhilfe

Ende März hat die SKOS ihr Monitoring zur Sozialhilfe veröffentlicht. Das Monitoring zeigt deutlich, dass es von Kanton zu Kanton und von Gemeinde zu Gemeinde erhebliche Unterschiede sowohl in der Höhe der ausbezahlten Beträge sowie auch bei den Rahmenbedingungen für die Sozialhilfe gibt. Armut wird ganz offensichtlich von Kanton zu Kanton und von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich definiert. Das darf nicht sein. Armut kennt keine Grenzen. Das Monitoring bestärkt die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht in der Forderung, die Sozialhilfe auf Bundesebene zu harmonisieren.

Ein Rüebli kostet im Kanton Bern etwa gleichviel, wie ein Rüebli im Kanton Zürich. Socken sind im Kanton Aargau vermutlich nicht signifikant günstiger als im Kanton Glarus. Nahrungsmittel und Kleider sind zentrale Elemente des Grundbedarfs für den Lebensunterhalt (GBL), wie ihn die SKOS in ihren Richtlinien definiert. Zum GBL zählen zudem Kosten für Getränke und Tabak, persönliche Körperpflege, Kosten für die Haushaltführung, den öffentlichen Verkehr und manches mehr. Der GBL ist ein wesentlicher Pfeiler der Sozialhilfe.

Das Gleiche ist in der Sozialhilfe nicht gleich

Seit diesem Jahr empfiehlt die SKOS den Sozialämtern, bei Einpersonenhaushalten für den Grundbedarf CHF 1006.-- zu entrichten. 17 Kantone folgen dieser Empfehlung. Vier Kantone entrichten CHF 997.-- , drei verharren bei CHF 986.-- (Empfehlung von 2013), einer – der Kanton Bern - bei CHF 977.-- (Empfehlung von 2011). Nur ein Kanton ist grosszügiger, als es die SKOS empfiehlt. Der Kanton Waadt kombiniert den Grundbedarf mit der Integrationszulage und entrichtet verhältnismässig stolze CHF 1110.--. Im Kanton Waadt haben Sozialhilfeempfangende für die Deckung ihres Grundbedarfs also pro Monat CHF 133.-- mehr zu Verfügung als derzeit im Kanton Bern.

Am Abstimmungssonntag vom 15. Mai 2022 hat zudem der Kanton Basel-Land bei der Revision des Sozialhilfegesetzes entschieden, die Höhe des Grundbedarfs bei Personen die lange Zeit ohne Arbeit sind, unter das von der SKOS definierte Existenzminimum zu kürzen. Was der Kanton Baselland am 15. Mai 2022 vollzogen hat, hat Pierre Heusser, damals noch Vertrauensanwalt der UFS und heute Ombudsmann der Stadt Zürich, in einem lesenswerten Artikel für die UFS vorhergesagt. Ursprünglich hat die SKOS die Höhe des Grundbedarfs nach rein wissenschaftlichen Kriterien definiert. Bei der Revision der Richtlinien 2018 ist sie davon abgewichen und hat sich bei der Definition des Grundbedarfs auch auf verschiedene politische Überlegungen gestützt. Pierre Heusser schrieb damals: «Es war genau die ursprüngliche solide Faktenbasis, die zur damaligen breiten Akzeptanz des SKOS-Grundbedarfs führte. Heute kann man provokativ fragen, wozu es die SKOS überhaupt noch braucht? Denn für die Bestimung des Grundbedarfs nach rein politischen Kriterien braucht es keine Fachorganisation. Das können die kantonalen Parlamente auch selber.» (Link zum ganzen Artikel: https://sozialhilfeberatung.ch/files/2018-03/sozialesexistenzminimum-pierre-klein.pdf).

Grosse Differenzen bei den Jungen

Noch grösser sind die Unterschiede bei der Berechnung des Grundbedarfs für junge Erwachsene, wie die SKOS schreibt: «Die Bandbreite reicht von CHF 457 bis CHF 997. Die verschiedenen Lebensformen (Zweck-Wohngemeinschaft oder eigener Haushalt) werden sehr unterschiedlich berücksichtigt. In sechs Kantonen erhalten junge Erwachsene – unabhängig von ihrer Lebensform bzw. ihrer Wohnsituation – denselben Grundbedarf.» (SKOS-Monitoring S. 7). Auch wer als junger Erwachsener oder junge Erwachsene gilt, ist je nach Kanton durchaus unterschiedlich: Meistens endet die Lebensphase«Junge Erwachsene» mit 25 Jahren, da und dort darf resp. muss man sich aber bis 30 oder 35 als jung fühlen. Die SKOS zieht als Fazit: «Das SKOS-Monitoring zeigt, dass der Grundbedarf für junge Erwachsene sehr unterschiedlich ausgerichtet und die effektive Lebenssituation nicht immer berücksichtigt wird.»

Grosse Unterschiede als roter Faden

Die grossen Unterschiede ziehen sich im SKOS-Monitoring wie ein roter Faden durch alle Kapitel, sei es bei der medizinischen Grundversorgung, den Integrationszulagen und Einkommensfreibeträgen oder bei situationsbedingten Leistungen. Bei den Wohnkosten unterscheiden sich die Mietzinsrichtlinien selbstverständlich von Gemeinde zu Gemeinde. Eine Wohnung in einer Kernstadt ist üblicherweise mit höheren Mietzinsen verbunden, als eine Mietwohnung in einem abgelegenen ländlichen Ort. Aber für alle Gemeinden gilt: «Die erlassenen Mietzinsrichtlinien dürfen nicht dazu dienen, den Zu- oder Wegzug von wirtschaftlich schwachen Personen zu steuern.» (SKOS-Monitoring 2021, S. 8) Ob diesem Grundsatz nachgelebt wird, wenn in bestimmten Gemeinden rund 50 Prozent oder mehr der Sozialhilfebeziehenden bei den Mietkosten die Mietzinsrichtlinien übersteigen, darf mit Fug und Recht in Frage gestellt werden.

Verdienen ist immer gut – aber nicht überall gleich gut

Als letztes Beispiel verweisen wir auf sehr unterschiedliche Praxen bei der Rückerstattungspflicht von empfangenen Sozialhilfeleistungen und fokussieren hier auf die Rückerstattungspflicht, wenn ehemalige Sozialhilfeempfangende wieder ein regelmässiges Einkommen erhalten.

Rechtmässig bezogene Unterstützungsleistungen müssen grundsätzlich rückerstattet werden, wenn eine ehemals unterstützte Person in günstige finanzielle Verhältnisse gelangt. In den SKOS-Richtlinien wird empfohlen, auf die Rückerstattung aus Erwerbseinkommen zu verzichten. Dort, wo Kantone eine gesetzliche Grundlage zur Rückerstattung aus Erwerbseinkommen vorsehen, empfiehlt die SKOS, eine grosszügige Einkommensgrenze zu gewähren und die zeitliche Dauer der Rückerstattung auf maximal vier Jahre zu begrenzen.

Die Praxis könnte hier von Kanton zu Kanton kaum grösser sein: Neun Kantone verlangen keine Rückerstattung, wenn sich die Verhältnisse aufgrund von Einkommen verbessert haben. Neun Kantone sehen in Ausnahmefällen eine Rückerstattung vor. Fünf Kantone verwenden eigene Berechnungsgrundlagen mit teilweise tieferen Einkommensgrenzen und drei haben die Frage nicht beantwortet. Noch disperser sieht es bei der Zeitdauer aus, während denen Gemeinden auf die Entrichtung von Ratenzahlungen pochen. Hier stossen wir auf Gemeinden, welche die Dauer der Rückzahlung auf weniger als vier Jahre begrenzen, solche, die sich an der Empfehlung der SKOS orientieren und solche die eine längere Frist setzen.

Armut orientiert sich nicht an Gemeindegrenzen

Die SKOS zieht bei der Analyse ihres Monitorings selber ein weitgehend positives Fazit: «Die Auswertung der einzelnen Themenbereiche zeigt, dass die SKOS-Richtlinien das Ziel der Harmonisierung der Sozialhilfe zwischen den Kantonen grossmehrheitlich erreichen.» Diesem Fazit können wir nicht folgen. Vielmehr stellen wir je nach Kanton und Gemeinde gravierende Unterschiede in der Sozialhilfe fest. Armut aber orientiert sich weder an Kantons- noch an Gemeindegrenzen. Die grossen Unterschiede empfinden wir stossend. Die SKOS-Richtlinien sind zweifellos ausserordentlich wertvoll. Aber im Endeffekt sind es – wie das Monitoring deutlich aufzeigt – lediglich Empfehlungen. Es ist höchste Zeit, dass entweder der Bund oder die Kantone im Rahmen der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK die Harmonisierung deutlich verstärken. Dies wäre umso naheliegender, als dass die SODK die SKOS-Richtlinien jeweils genehmigen muss, bevor diese in Kraft treten. Weshalb sich viele Kantone nicht an die Richtlinien halten, die von ihren Sozialdirektor:innen genehmigt worden sind, ist ein Mysterium.


Die Armut, nicht die Armen bekämpfen.

Aufklärung und objektive Informationen zur Sozialhilfe sind wichtiger denn je. Die Stimmbevölkerung des Kantons Baselland hat am Abstimmungssonntag vom 15. Mai entschieden, die Höhe des Grundbedarfs für den Lebensunterhalt (GBL) bei Langzeit-Sozialhilfempfangenden unter das von SKOS errechnete Existenzminimum zu senken. Die Stimmbevölkerung von Solothurn ihrerseits hat eine von der SVP lancierte Initiative verworfen, mit der Flüchtlingen die Sozialhilfe massiv hätte gekürzt werden sollen. Die Signale zur Sozialhilfe aus den beiden Nachbarkantonen sind also durchaus gegensätzlich. Beide machen aber deutlich: Das Thema Sozialhilfe darf nicht denjenigen Kräften überlassen werden, die einen Abbau der Sozialhilfe anstreben. Das Wesen der Sozialhilfe und die Lebensumstände von Sozialhilfeempfangenden bleiben in hohem Masse erklärungsbedürftig. Sozialhilfe will Armut bekämpfen und nicht – wie dies nun im Kanton Baselland leider teilweise der Fall ist – die Armen. Dafür setzt sich die UFS ein.

Bekämpfung von Armut – nicht der Armen

In Baselland erhalten Personen, die seit zwei Jahren Sozialhilfe beziehen. künftig jeden Monat CHF 40.-- weniger für den Grundbedarf. Dafür gibt es Zuschüsse für Personen, die beispielsweise ein Beschäftigungsprogramm absolvieren oder eine Ausbildung machen. Zudem soll ein neuartiges Assessmentcenter geschaffen werden. Die Befürworter der Gesetzesrevision stellten diese Motivationsaspekte ins Zentrum, wie sie auch Regierungsrat Anton Lauber (Die Mitte) nach dem für ihn erfolgreichen Urnengang formulierte: «Mit dem neuen Gesetz kann man in den entscheidenden ersten beiden Jahren der Sozialhilfe die Motivation und damit die Chancen auf die Integration erhöhen.» (bzbasel.ch, 15.5.2022). Diese Argumentation erschliesst sich den Kritiker:innen der Gesetzesrevision, zu der unter anderem auch die UFS zählt, nicht. Leif Simonsen, Redaktor der Basler Zeitung, hat es in seinem Kommentar zur Gesetzesrevision auf den Punkt gebracht: «Der allergrösste Teil der Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger sehnt sich bereits heute nach einem Job. Eine Krankheit oder der psychische Zustand verunmöglicht aber eine geregelte Arbeit. Wieder für andere gibt der Arbeitsmarkt schlicht nichts her – beispielsweise weil sie vor dreissig Jahren etwas gelernt haben, was heutzutage nicht mehr gefragt ist. Es bleiben extrem wenige, die sich in ihrer Rolle als Sozialhilfebebzüger wohlfühlen.» Es bleibt das ungute Gefühl, dass mit der Revision des Baselbieter Sozialhilfegesetzes zwar von Motivation der Sozialhilfeempfangenden gesprochen wird, aber die Bekämpfung der Armen gemeint ist. Schon heute können Sozialhilfeleistungen gekürzt oder gar eingestellt werden, wenn unterstützte Personen nicht alles Zumutbare unternehmen, um sich von der Sozialhilfe abzulösen. Dazu braucht es das neue Gesetz nicht. Dass der wohlhabende Kanton Baselland nun Langzeit-Sozialhilfeempfangenden, die keine Chance auf eine geregelte Erwerbstätigkeit haben, die ohnehin karge Sozialhilfe kürzt, ist nicht würdig.

Etikettenschwindel an vielen Fronten

Die Sozialhilfeempfangenden zu motivieren, durch Beitragskürzungen wieder im Erwerbsleben tritt zu fassen, davon spricht immer auch die Schweizerische Volkspartei SVP. Sie führt dann oft den Slogan «Motivation statt Sanktion» ins Feld. Dieser Grundsatz stand auch dem ursprünglichen Vorstoss im Kanton Baselland Pate, womit die Partei noch viel weitergehende Kürzungen der Sozialhilfe hätte durchsetzen wollen. Sie liess ihre radikalen Forderungen zu Gunsten der nun angenommenen Revision fallen. Die SVP hat zusammen mit rechtsbürgerlichen Mitstreiter:innen in jüngerer Zeit in verschiedenen Kantonen mit gleichartigen oder ähnlichen Vorstössen versucht, den Sozialhilfeempfangenden das Leben noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon ist. Der Grosse Rat des Kantons Aargau hat erst kürzlich zwei Vorstösse definitiv versenkt, die eine massive Kürzungen der Sozialhilfe verlangt haben. Dass sich die Sozialhilfe am Existenzminimum orientiert und dieses in der Schweiz ausserordentlich knapp berechnet wird, liessen sie im Aargau wie anderswo gerne ausser acht. Zum Glück gaben im Aargau die Regierung und das Parlament Gegensteuer.

Gescheiterte Initiative in Solothurn

Ganz offen gegen Menschen in Armut richtete sich die SVP-Initiative «Weniger Sozialhilfe für Scheinflüchtlinge». Die Sozialhilfe hätte für Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene «erheblich» gekürzt werden sollen – wobei es die Initiant:innen versäumten, sowohl den Begriff «erheblich» wie den Begriff «Scheinflüchtling» zu definieren. 55 Prozent der Stimmenden lehnten die Initiative ab. Sie liessen sich von den guten Argumenten der geschlossenen Gegnerschaft überzeugen. Die Gegner:innen der Initiative zeigten auf, dass ein Sozialhilfeabbau kein bisschen am Umstand ändere, dass die Ausreise der Abgewiesenen in ihr Herkunftsland für unbestimmte Zeit nicht möglich, nicht zumutbar oder unzulässig sei. Und dass es deshalb sinnvoller sei, Geld in Integrationsmassnahmen zu stecken. Immerhin 45 Prozent aber unterstützten das Vorhaben. Auch dies zeigt den hohen Erklärungsbedarf auf, der mit der Sozialhilfe verbunden ist.

Sozialhilfeempfangende haben keine Lobby

Bei praktisch allen in den letzten Wochen und Monaten diskutierten Vorstössen handelte es sich um Angriffe auf die Sozialhilfe und auf die Sozialhilfeempfangenden. Vor allem rechtsbürgerliche Kreise kultivieren das Bild von Sozialhilfeempfangenden, als auf der faulen Haut liegende Sozialschmarotzer:innen, die sich mit der kargen Sozialhilfe ein schönes Leben machen. Diese in der Regel durch die SVP orchestrierten Angriffe auf die Sozialhilfe zeigen durchaus Wirkung, wie der Journalist Andres Eberhard in einem sehr lesenswerten Artikel auf infosperber.ch aufzeigte: «In mehreren Kantonen wurden in den vergangenen Jahren Verschärfungen für einzelne Personengruppen, vor allem Asylsuchende oder Ausländerinnen und Ausländer, beschlossen. Zudem weicht die SKOS als Folge des politischen Drucks von wissenschaftlichen Empfehlungen ab. So liegt der von der SKOS empfohlene Grundbedarf rund 100 Franken unter dem Existenzminimum. Ausserdem gerieten auch Sozialarbeitende unter enormen Druck, das geltende Recht restriktiv durchzusetzen. Niemand wollte das Risiko eingehen, dass es zu einem Missbrauchsfall kommt, der öffentlich wird.» (Link zum Artikel: https://www.infosperber.ch/gesellschaft/finale-schlacht-um-radikale-svp-forderung/). Die SKOS definierte das soziale Existenzminimum bis 2018 beim Einkommen der 10 Prozent der einkommensschwächsten Haushalte. 2018 hat sich die SKOS von dieser auf wissenschaftlicher Faktenbasis beruhenden Berechnung abgewandt.

Konstruktive und proaktive Diskussionsbeiträge fehlen

Schade ist, dass die fortschrittlicheren Parteien von der FDP über die Mitte, der GLP bis zur SP und den Grünen das Feld «Sozialhilfe» weitgehend den rechtsbürgerlichen Kräften um die SVP überlassen. Sie lassen es dadurch zu, dass das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt so wichtige Werk der Sozialhilfe von der Öffentlichkeit ausschiesslich in einem schlechten Licht wahrgenommen wird. Allenfalls reagieren fortschrittlichere Kräfte auf besonders stossende Angriffe, und tragen so dazu bei, dass das Schlimmste vermieden wird. Proaktive Vorstösse, welche die Sozialhilfe wDie Sozialhilfe hat keine Lobby. Schade. Es ist dringend nötig und wichtig, dass sich auch konstruktive Kräfte öffentlich intensiv dem Thema «Sozialhilfe in der Schweiz» annehmen. Denn Armut ist kein Verbrechen und die angemessene Hilfe in der Verfassung festgeschrieben.


Lesetipp: Für Alle und für alle Fälle

Das kluge Buch von Ruth Gurny und Beat Rinnger aus dem Verlag edition8 fordert eine umfassende Revision des schweizerischen Sozialsystems. Ruth Gurny und Beat Ringger, führende Köpfe des linken Thinktank «Denknetz» schlagen in ihrem Buch «Für Alle und für alle Fälle» die Integration und Zusammenfassung sämtlicher Sozialleistungen in einer neuen Allgemeinen Erwerbsversicherung AEVplus vor. Die UFS findet: Die Lektüre lohnt sich.

Die Kernidee: Eine Versicherung für alle und alles

Die neue Allgemeine Erwerbsversicherung AEVplus soll, so diskutieren es die Autorin und der Autor, anstelle der heutigen Arbeitslosen-, Unfall-, Kranken-, Invaliden-, Mutterschafts- und Militärversicherung sowie der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen treten. Damit würde das historisch gewachsene Wirrwarr des heutigen Systems beseitigt. Anstelle bürokratischer Abgrenzungskämpfe würde die Nutzung von Synergien treten. Menschen würden nicht mehr hin- und hergeschoben, Leerläufe würden vermieden, Leistungen könnten verbessert und Lücken im Sozialsystem geschlossen werden. Weitere Teile des Buches widmen sich der Forderung nach einer Umschulungsoffensive und der Revision des Migrationsrechtes.

Man muss nicht mit allen Teilen des Buches einverstanden sein, um es mit Gewinn zu lesen. Die Kritik am heutigen System ist plausibel, die Forderungen sind fundiert. Vor allem zeigt das Buch auf, dass es durchaus Alternativen zum heutigen System gibt.

Neue Impulse sind dringend notwendig

Die UFS beklagt schon lange, dass die Sozialhilfe gemessen an den hohen schweizerischen Lebenskosten zu knapp bemessen ist. Das überaus knappe Budget lässt den Sozialhilfeempfangenden kaum Luft, um wirklich wirksam an einer besseren Zukunft arbeiten zu können. Eine Lösung wäre es, die Sozialhilfe mit den Ergänzungsleistungen gleichzustellen. Wie lückenhaft unser Sozialsystem ist, zeigt auch eine Studie der Berner Fachhochschule / Soziale Arbeit auf. die Studie macht sichtbar, wie weit verbreitet Familienarmut und Kinderarmut in der Schweiz sind. In der Schweiz leben 5,2 Prozent der Kinder in Armut. Alleinerziehende, Familien mit vielen Kindern und Familien mit Kleinkindern sind besonders oft von Armut betroffen oder leben unmittelbar oberhalb der Armutsgrenze. Die Schweiz schneidet diesbezüglich auch im europäischen Vergleich sehr schlecht ab. Wäre es da nicht an der Zeit, das schweizerische Sozialsystem neu zu denken? Das Buch «Für alle und für alle Fälle» gibt spannende Anregungen und Impulse.


Gemeinde übernimmt nach Intervention der UFS die vollen Zahnarztkosten

Ein Sozialhilfeempfänger in einer Aargauer Gemeinde beantragte die Übernahme von notwendigen Zahnarztkosten durch seine damalige Wohngemeinde. Diese verfügte zunächst eine Kostenbeteiligung von 20 Prozent. Nach der Intervention der UFS verzichtet die Aargauer Gemeinde nun auf den Selbstbehalt und übernimmt die Kosten vollumfänglich.

Er machte alles richtig. Der in der Aargauer Gemeinde Y. wohnhafte Sozialhilfeempfänger Z. musste seine Zähne dringend einer Behandlung unterziehen. Sein Zahnarzt erstellte einen Kostenvoranschlag, den Z. bei der Sozialbehörde seiner Gemeinde einreichte. Diese liess den Kostenvoranschlag durch ihren Vertrauenszahnarzt prüfen, der feststellte, dass sich das ganze auch günstiger bewerkstelligen liesse. So weit so gut. Der Sozialhilfeempfänger akzeptierte die günstigere Variante.

Ungerechtfertige Kostenbeteiligung

Was er nicht akzeptieren konnte, waren die 20 Prozent Kostenbeteiligung, die ihm die Gemeinde aufbrummte. Die Gemeinde stützte sich dabei auf einen Passus im eigenen Reglement der Gemeinde Y., gemäss dem je nach Mundhygiene eine Eigenbeteiligung zwischen 10 und 20 Prozent der Kosten durch den Klienten zu übernehmen sei. Und eben diese Mundhygiene wurde beim Sozialhilfeempfänger als ungenügend beurteilt.

Rekurs mit Hilfe der UFS

Dagegen werte sich der Mann mit Hilfe der UFS. Diese rekurrierte bei der Gemeinde und verwies dabei auf ein Urteil des Aargauer Verwaltungsgerichtes aus dem Jahr 2021, das einen gleich gelagerten Fall betraf. Dieses hielt unmissverständlich fest, dass bei notwendigen Zahnbehandlungen Sozialhilfeempfangenden keine Kostenbeteiligungen aufgebürdet werden dürfen. Das Gericht stützte sich dabei auf die geltenden SKOS-Richtlinien, in denen aufgeführt ist, dass Kosten für Zahnbehandlungen unter die Sozialhilfe fallen, sofern die Behandlung nötig ist, in einer einfachen, wirtschaftlichen sowie zweckmässigen Weise erfolgt und der langfristigen Erhaltung der Kaufähigkeit dient. Das Gerichtsurteil können Sie hier nachlesen: https://sozialhilfeberatung.ch/files/2022-04/2021-07-15-ag-vrg-zahnarztkosten-geschwa-rzt.pdf?3a9c28e76f

Auch das kantonale Handbuch Soziales (Kap. 7.3.4.) hält seit einigen Monaten fest: «Jegliche Auflagen und Weisungen zur Mundhygiene der betroffenen Person sind gemäss aktueller Rechtsprechung des Aargauischen Verwaltungsgerichts unrechtsmässig.»

Gemeinde Y korrigiert Entscheid

Die auferlegte Kostenbeteiligung war also klar unrechtmässig. Die Gemeinde Y. erkannte den Fehler und revidierte ihren Entscheid. Sozialhilfeemfpänger Z. kann nun seine Zähne behandeln lassen und muss sich dafür nicht an den Kosten beteiligen.


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